Die neue Risikogruppe

Die Gruppe der Nicht-Geimpften trägt alle Merkmale einer Covid-19-Risikogruppe im Verhältnis zur stark wachsenden Gruppe der Geimpften. Doch ihre Schutzwürdigkeit wird zunehmend in Frage gestellt – auch im beruflichen Umfeld.

Waren bisher das Alter sowie gewisse Vorerkrankungen die Risikofaktoren für einen potentiell schweren Krankheitsverlauf von Covid-19, so sind diese nun um den Faktor einer nicht medizinisch eingestellten Immunabwehr zu ergänzen.
Und es ist absehbar, dass sich unsere Gesellschaft schwer tun wird im Umgang mit der keinesfalls homogenen Gruppe von nicht geimpften Menschen, noch schwerer als im Umgang mit den bisherigen Risikogruppen, deren besondere Schutzbedürftigkeit zumindest im Grundsatz nicht in Frage gestellt wurde. Dieser Konsens ist in Bezug auf Nicht-Impfwillige, und damit auf einen kaum zu bestimmenden Anteil der Nicht-Geimpften nicht unbedingt zu erwarten. Und ein weiterer Teil von ihnen lehnt dabei neben der Impfung auch jegliche systematischen Schutzmaßnahmen kategorisch ab. Ein Teil – wohlgemerkt! Dennoch steht die Angemessenheit von vollumfänglichen Kontaktrestriktionen zum Schutz nicht geimpfter Personen sehr konkret in Frage. Und dies war bisher immerhin das ultimative Mittel, der letzte gemeinschaftliche Schutzwall in ansonsten kaum bremsbaren Situationen im Pandemieverlauf – er soll nun durch die Impfung ersetzt werden.
Doch ohne eine konkrete rechtliche Verpflichtung zur Impfung geniessen auch Nicht-Geimpfte einen weitreichenden rechtlichen Schutz.
Wir versuchen hier einen Überlick über verschiedene Faktoren, die auch für die Filmproduktion eine Rolle spielen.

Welche Rolle spielen Nicht-Geimpfte in der Covid-19-Pandemie?

Im Juni war von Seiten des Gesundheitsministers zu erfahren, dass bis Ende Juli alle Impfwilligen in Deutschland ein Impfangebot erhalten würden. Und auch die verhaltendsten Stimmen aus der Ärzteschaft sehen das Ziel der Impfkampagne, nämlich die Erstimpfung aller Impfwilligen, bis zum September erreicht.

Inzwischen wird davon ausgegangen, dass eine “Durchimpfung” der Bevölkerung bei einer Impfquote von rund 85% der Bevölkerung zwischen 12 und 59 Jahren erreicht sei. Die Umfragen der letzten Wochen konstatierten eine Impfbereitschaft von rund 75% bei steigender Tendenz. Das Ziel der sogenannten Herden-Immunität scheint also dennoch zusätzliche Bemühungen zu erfordern, die verbliebenen Impfwilligen auch tatsächlich zur Impfung zu bewegen, die noch Unentschlossenen zu überzeugen, und die Erstgeimpften auch zu ihrer geplanten Zweitimpfung zu bewegen.
Der Druck auf Nicht-Geimpfte wächst also – bislang stärker im Ausland als in Deutschland selbst. Hier ist bis zuletzt die Rede davon, dass Nicht-Geimpfte nicht mit Einschränkungen oder Verboten zu rechnen hätten. “Eine rechtliche Unterscheidung von Geimpften und Nicht-Geimpften kommt einer verdeckten Impfpflicht gleich”, und die wolle man in Deutschland nicht, so Innenminister Seehofer.
Und dies hat auch mit der im internationalen Vergleich hohen Impfbereitschaft in der Bevölkerung Deutschlands zu tun.
Wird das Durchimpfungs-Ziel erreicht, dürfte der Druck also rasch wieder abnehmen. Wenn nicht, ist damit zu rechnen, dass die Karten neu gemischt werden.

Welche Rolle spielen Nicht-Geimpfte im betrieblichen Hygieneschutz?

Medizinische Maßnahmen fallen nicht unter das generelle Direktionsrecht von Arbeitgebern. Sie erfordern im Allgemeinen die freiwillige Mitwirkung der Arbeitnehmer. Die Abfrage von Gesundheitsdaten durch Arbeitgeber unterliegt den allgemeinen Datenschutzbestimmungen, d.h. sie erfordern in jedem Falle einen Grund sowie ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers über die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Als Grund könnten demnach die Erfordernisse des betrieblichen Hygiene- und Arbeitsschutz in Frage kommen.
Ob dies jedoch in diesem Falle ein allgemein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers begründet, muss zur Zeit bezweifelt werden, denn:

  • Der Schutz-Umfang von Covid-19-Impfungen ist (nach bisherigen Erkenntnissen) unklar, in jedem Falle jedoch nicht umfassend.
  • Die in Deutschland maßgeblichen Arbeitsschutzregeln und Vorschriften sehen Impfungen im Allgemeinen nicht als Mittel des Arbeitsschutz.
    Ebensowenig wie Testungen. Und dies, weil Arbeitgeber bei Maßnahmen im betrieblichen Arbeitsschutz eben die Mitwirkung der Arbeitnehmer verpflichtend voraussetzen dürfen, während gesundheitliche Maßnahmen jenseits der arbeitsmedizinischen Vorsorge grundsätzlich freiwillig sind.
  • Der betriebliche Arbeits- und Gesundheitsschutz priorisiert technische und organisatorische Maßnahmen vor persönlichen Schutzmaßnahmen (Das TOP-Prinzip im Arbeitsschutz). Corona-Impfungen sind also derzeit kein Mittel, um die erprobten betrieblichen Covid-19-Schutzkonzepte und ihre Maßnahmen zu ersetzen – dies wäre gleichbedeutend mit einer Abwälzung unternehmerischer Pflichten auf die Arbeitnehmer.

Hervorzuheben ist, dass die hier betrachteten medizinischen Maßnahmen auch das Erheben persönlicher medizinischer Daten umfasst (z.B. Corona-Tests).
In der Praxis wurden derlei Fragen bisher von allen Beteiligten weitgehend pragmatisch, manchmal auch mit sanftem Druck gehandhabt, ohne juristische Präzedenzfälle zu erzeugen oder abzuwarten. Alle hatten ein Interesse an einem möglichst reibungslosen Zusammenwirken bei der Überwindung der Auswirkungen der Corona-Pandemie.

Doch wenn das Recht auf körperliche Unversehrtheit berührt ist, spielt die Betrachtung der berührten Rechtsfragen wieder eine größere Rolle.
Und in konkreten Ausnahmefällen kann die Gesamtschau auch andere Bewertungen erlauben, zum Beispiel im Zusammenhang mit Auslandstätigkeiten. Auch bei diesem Beispiel liegt die Verantwortung im Rahmen seiner Fürsorgepflicht zunächst beim Arbeitgeber, doch kann in Einzelfällen zum Beispiel auch die Mitwirkung bei der Erfüllung gesetzlicher Impf- oder Testpflichten (für bestimmte Tätigkeiten oder an bestimmten Einsatzorten) von Mitarbeitern verlangt werden.

Kann die Vertragsfreiheit die Beschäftigung von Nicht-Geimpften verhindern?

Doch wann entfalten diese Einzelfallbetrachtungen eine weitergehende, allgemeinere Wirkung? Über diese Frage zerbrechen sich Juristen täglich die Köpfe, denn meistens geht es dabei um die Abwägung verschiedener Rechtsgüter – bis sich die Waage Justitias in die eine oder in die andere Richtung bewegt. Und so sind viele Juristen zum jetzigen Zeitpunkt durchaus vorsichtig, sich beim Direktions- und Auskunftsrecht von Arbeitgebern in Gesundheitsfragen zu schnell festzulegen.

Es ist dabei immer wieder von der Vertragsfreiheit privatwirtschaftlicher Unternehmen die Rede, in der es kurz gesagt unter anderem darum geht, dass es Unternehmen frei steht, mit wem sie Verträge abschliessen und was diese beinhalten, sofern sie dabei nicht gegen zwingende Vorschriften des geltenden Rechts,  gesetzliche Verbote oder die guten Sitten verstoßen. Diese Privatautonomie gilt natürlich auch, wenn vom potentiellen Vertragspartner ein ungewöhnliches Risiko für die Interessen des eigenen Unternehmens ausgeht. Diese Frage spielt bei den überwiegend projektbezogenen Engagements bzw. den kurzen Befristungen der Beschäftigungsverhältnisse in der Filmproduktion also eine wichtige Rolle, weil sie den immer wiederkehrenden Zeitraum der Vertragsanbahnung berührt.

Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Ad-hoc-Empfehlung vom 04.Februar 2021 “Besondere Regeln für Geimpfte” festgestellt, dass “Einschränkungen der Vertragsfreiheit privater Anbieter gerechtfertigt sein können, wenn der Zugang zu ihren Angeboten für eine prinzipiell gleichberechtigte, basale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unerlässlich ist”. Diese Stellungnahme müsste jedoch noch dahingehend präzisiert werden, ob sie im konkretisierten Kontext auch für den Zugang zur Erwerbstätigkeit gilt. Auch wäre im Grundsatz genauer darzulegen, ob, wie der Ethikrat kurz und knapp festhält, die Frage nach dem Impfstatus tatsächlich nicht vom Diskriminierungstatbestand des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes erfasst ist (Stichwort: Diskriminierung wegen Behinderung).

Ein Fokus der derzeitigen juristischen Erörterungen liegt folgerichtig in der Frage des unbedingten Auskunftsrechts der Arbeitgeber im Hinblick auf den Impfstatus. In welche Richtung hier das Pendel schlägt, ist noch unklar.
Das Infektionsschutzgesetz jedenfalls, auf dessen Rechtsgrundlage die Corona-Impfungen in Deutschland durchgeführt werden, sieht für Auskünfte über den Impfstatus ganz klar nur eine Ausnahme von der allgemeinen Datenschutzgesetzgebung vor (§23a IfSG), welche jedoch ebenso klar nur im Gesundheitswesen anwendbar ist. Und die allgemeinere Datenschutzgrundverordnung erfordert eben die Darlegung einer zwingenden Notwendigkeit für die Erhebung von besonders schützenswerten Daten, was Gesundheitsdaten ja sind. Diese Darlegung erfolgte für eine Allgemeingültigkeit offenbar bisher noch nicht in hinreichender Art.

“Freiwillige” medizinische Maßnahmen als alltägliche Praxis der Filmproduktion?

Im Juni hatte der Fall “Steirer Krimi” für Aufsehen gesorgt, als die Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Eva Herzig für die diesjährige Staffel der Serie ausgesetzt wurde. Sie hatte gegenüber der produzierenden Firma bekanntgegeben, dass sie sich nicht gegen Corona impfen liesse. Die Allegro Film (Wien) führte dazu aus, dass “sich etwa 50 Personen ständig am Set [befinden], für die wir als Produktionsfirma die Verantwortung haben. Dazu zählt vordringlich und ohne Zweifel, dass alles zu vermeiden ist, was die Gesundheit von Mitarbeitern gefährden könnte.”
In Deutschland wurde und wird derzeit soviel gedreht, wie noch nie, und dies unter Anwendung des weitgehenden und rechtlich abgesicherten Hygieneschutzrahmens der zuständigen Berufsgenossenschaft.
Es erschien bisher und erscheint immer noch möglich, die Mitarbeiter unabhängig von persönlicher Immunität angemessen zu schützen.
Es ist schwierig zu begründen, warum die Gesundheit der Mitarbeiter nun zusätzlich auch die Erhebung von Gesundheitsdaten oder eine Impfung zwingend erfordern sollte (eine geregelte Mitwirkungspflicht am betrieblichen Hygienekonzept nehmen wir dabei als gegeben an). Doch möglicherweise lässt die Sach- und die Rechtslage in Österreich eine andere Sichtweise zu.

Dennoch lohnt sich in diesem Kontext ein kritischer Blick auf den Handlungsrahmen unserer Berufsgenossenschaft BG ETEM. Das Stufenkonzept zum Schutz von Tätigkeiten “vor der Kamera” (und nur dieses Konzept gestattet uns bestimmte Ausnahmen von der Einhaltung der AHA-Regeln) beinhaltet als ergänzende Schutzmaßnahme bereits medizinische Befunde (Temperatur-Screenings, Corona-Testungen) sowie in der höchsten Schutzstufe auch Verhaltensregeln, welche zum Teil in das Privatleben der Betroffenen und seines Umfelds eingreifen. Dieses Konzept ersetzte im Sommer 2020 die in früheren Fassungen der Handlungsempfehlung enthaltene Übernahme von Selbstisolations- und Quasi-Quarantäne-Konzepten aus der Fußballbundesliga (wir berichteten), und es erfordert in jedem Falle zwingend eine Belehrung und vertragliche Vereinbarung dieser Maßnahmen im Rahmen eines klar definierten betrieblichen Hygienekonzepts. Ist dies nicht der Fall, kann die vertragliche Leistung nicht erfolgen.

Nun sind also Darstellende Künstler, Komparsen und Doubles eine Berufsgruppe, deren Tätigkeit bereits regelmäßig medizinische Maßnahmen erfordert. Wäre nicht für diese Berufsgruppe eine Impfpflicht keine substantielle Schlechterstellung mehr gegenüber dem bisherigen Status Quo ihrer Tätigkeit?
Die Antwort lautet schlicht: Nein. Solange der Staat keine generelle oder partielle Impfpflicht vorsieht, insbesondere vor dem Hintergrund realer und erprobter Alternativen, sind Abwägungsgedanken zwischen betrieblichen Risiken und persönlichen Risiken für die körperliche Unversehrtheit bei der Filmproduktion müßig. Auch vor diesem Hintergrund müssten Fragen nach der konkreten Intention einer erwünschten Impfpflicht oder Impfstatus-Auskunftspflicht für bestimmte Berufsgruppen in jedem einzelnen Falle plausibel beantwortet werden.

Sanktionierung von Nicht-Geimpften vs. Belohnung von Geimpften

Eine deutliche Sprache spricht die Festlegung des DGB hinsichtlich der aus Sicht von Arbeitgebern ebenfalls zumindest fraglichen Lohnfortzahlung im Covid-19-Erkrankungsfall bei Nicht-Geimpften. Der DGB stellt fest, dass die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gesetzlich geregelt sei, und dass eine Aufhebung dieses gesetzlichen Anspruchs demnach ebenfalls gesetzlich vorgesehen sein müsste – was nicht der Fall ist. Doch auch hier gilt – die “Verschuldensfrage bei ausgeschlagener Impfung” ist juristisch noch nicht abschließend geklärt. Der Bayerische Rundfunk fasst in einem Beitrag den Stand der Dinge zusammen.

Ebenso deutlich fallen rechtliche Einschätzungen zu Anreizen zur Impfung aus. Arbeitgeber können zwar geldwerte Anreize zur Durchführung von Corona-Impfungen schaffen. Die Pflicht zur Impfung kann hiervon jedoch nicht abhängig gemacht werden.

Bis auf Weiteres wird man sich an folgender Faustregel orientieren können: Solange es im Gesundheits- und Pflegesektor keine Impfpflicht gibt, wird man die verheissungsvolle Suche nach begründeten Sonderregelungen für die  Filmbranche vermutlich auf Eis legen müssen.

In einigen der oben erörterten Detailfragen mag zur Zeit noch keine Rechtssicherheit bestehen. Doch in der fiktionalen Filmproduktion (und zunehmend auch wieder in nicht-fiktionalen Sparten) schafft zumindest im Moment das Arbeitsmarktprinzip von Angebot und Nachfrage auch für Nicht-Geimpfte ein Stück Rechtsfrieden: Zumindest hinter der Kamera wird die Frage nach dem Impfstatus in absehbarer Zeit keine größere Rolle bei Anstellungsgesprächen spielen.

Was für ein Science Fiction Stoff, oder?
Eine neue Technik der individuellen medizinischen Optimierung als Garant und Bedingung beruflich-gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Absicherungsangebote – diese Grundsatzfrage wird hier und heute neu ausgehandelt.

“Der Mensch als Übender, als sich durch Übungen selbst erzeugendes und dabei über sich selbst hinausgehendes Wesen. Raeiner Maria Rilke hat den Antrieb zu solchen Exerzitien zu Beginn des 20.Jahrhunderts in die Form gefasst: Du musst Dein Leben ändern.” (Peter Sloterdijk, 2009)