Neue Wege bei tariflichen Mindeststandards

Eine neue Ver.di-Vereinbarung für fiktionale Netflix-Serienproduktionen und ihre Bedeutung für die künftige Tarifpolitik

Alle wichtigen Informationen und ein erster Praxis-Check

Am 14. Juli 2022 verkündeten Ver.di und Netflix eine hauseigene gagentarifliche Vereinbarung mit Netflix (Link zur Pressemitteilung von Ver.di). Sie beinhaltet die formelle Anerkennung des TV-FFS sowie des damit verbundenen Gagen-Tarifvertrags, geht jedoch zumindest bei letzterem über die blosse Anwendung tariflicher Mindestgagen für bestimmte Berufsgruppen hinaus. Wie auch beim TV-FFS geht es in der Vereinbarung mit Netflix jedoch um die Definition von Mindeststandards, welche nicht unterschritten werden dürfen.

Wie lauten die spezifischen Vereinbarungen, und für wen gelten sie?

  • Die Vereinbarung erzielt im Gegensatz zum TV-FFS innerhalb ihres Geltungsbereichs de facto eine teilweise Allgemeingültigkeit.
    Das heisst: Sie gilt ausnahmslos für alle an fiktionalen Serienproduktionen von Netflix beteiligten Produzenten in Deutschland, wenn im Produktionsauftrag eine entsprechende Normen-Bezugnahme auf den TV-FFS und die Vereinbarung Ver.di – Netflix enthalten ist. Hieraus ergibt sich für diese Auftragsproduzenten eine Verpflichtung zu einem entsprechenden Normenbezug in den Arbeitsverträgen der vertragsgegenständlichen Produktion. Auf indirektem Wege bedeutet dies auch für Filmschaffende der in in einem Anhang gelisteten Berufe eine Allgemeingültigkeit im Geltungsbereich der Vereinbarung.
  • Die Vereinbarung beinhaltet eine zweistufige Anhebung der Mindestgagen für “erfahrene” Filmschaffende.
    Die Erhöhung beträgt für Serienproduktionen mit einem sogenannten “regulären Budget” (1,2 bis 2,5 Mio EUR pro Episode) 5% von Mindestgagen nach dem Gagentarifvertrag. Für Serienproduktionen mit einem “hohen Budget” (über 2,5 Mio EUR pro Episode) beträgt die Erhöhung 7,5%.
    Als Berechnungsgrundlage für die Budgetstufen gelten die von Netflix genehmigten Nettofertigungskosten – also sämtliche Kostenbestandteile, welche in die Berechnung von HU&Gewinn von Produzenten einfliessen. Nicht darin enthalten sind etwa vereinbarte Überschreitungsreserven oder Covid-19-Zusatzkosten. Der Minutenpreis einer Serie ist bei der Stufen-Festlegung unerheblich.
  • “Erfahrene” Filmschaffende gemäß dieser Vereinbarung müssen 5 Jahre Berufserfahrung nachweisen.
    Die Berufserfahrung gilt als erfüllt, wenn sie in der vertragsgegenständlichen Tätigkeit erbracht wurde, und zwar in einer Reihe von vergleichbaren Premium (sic!) Scripted TV-, Kino-, oder Streaming-Produktionen, oder Produktionen die in Arbeitsweise und Budget vergleichbar sind.
  • Die Vereinbarung beinhaltet eine Mindestgage für RegisseurInnen pro Episode – mit separaten Aufstockungs-Stufen.
  • Die Mindestgagen dieser Vereinbarung gelten, sofern anwendbar, rechtlich als Gemeinsame Vergütungsregel (GVR) nach §36 UrhG.
    Dies betrifft also alle Urheber oder ausübende (sic!) Künstler, die in Bezug auf die jeweilige Produktion anerkannt sind.
  • Die Laufzeit der Vereinbarung ist an jene der “Gemeinsamen Vergügungsregeln (GVR) für Serienproduktionen” zwischen Netflix, Ver.di und BFFS gekoppelt, welche zum 01. Januar 2025 ausläuft. Sie gilt für Serienproduktionen, deren erster Drehtag nach dem 01. Juli 2022 und vor dem 01. Januar 2025 liegt.
  • Die Vereinbarung unterliegt ausschließlich deutschem Recht.

Welche Folgen und Probleme ergeben sich aus dieser Vereinbarung?

Ver.di hat die Vereinbarung mit Netflix wie einen Anerkennungs-Tarifvertrag ausgestaltet – er erkennt die Grundlagen des TV-FFS ausdrücklich an. Ver.di hat damit einen eleganten Hebel genutzt, mittels Hausvereinbarung auch nicht tarifgebundene Produzenten zur Anwendung des TV-FFS zu zwingen.
Man wird nun von einem allseitigen Interesse der Vertragspartner ausgehen müssen, die Erfüllung der Vereinbarung in Zweifels- oder Streitfällen auch nachweisen zu können. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Dokumentierung des Vorliegens der jeweiligen Bedingungen der Vereinbarung.
Zunächst gilt es also, die konkreten Vergütungsbedingungen im Vertrag transparent festzuhalten, wozu im Zweifel entsprechende arbeitgeber- und arbeitnehmerseitige Erklärungen im Rahmen des Arbeitsvertrags genügen dürften.
Konkret: Der Arbeitnehmer erklärt, eine Berufserfahrung von mindestens 5 Jahren in der vertragsgegenständlichen Tätigkeit zu haben (oder eben nicht), und der Arbeitgeber erklärt, welche Mindestgage inkl. etwaigem Aufschlag für die Tätigkeit in der jeweiligen Produktion zur Anwendung kommt.
Auch bei höher vereinbarten Gagen kann dies für Filmschaffende in Einzelfällen relevant sein, da ja individualvertraglich übertarifliche Gagenbestandteile zur Abgeltung von Zusatzleistungen herangezogen werden können, solange nach dem Günstigkeitsprinzip dabei die Mindestgage nicht unterschritten wird.
Dazu muss man jedoch transparent machen, welche Mindestgagen in der jeweiligen Produktion denn gelten.
Im Einzelfall sollten die entsprechenden Erklärungen jedoch auch überprüfbar sein.
Hierzu geeignet erscheinen arbeitgeberseitig das Vorliegen einer Erklärung des Auftraggebers über den Budgetbereich der jeweiligen Produktion, welcher für die Zusatzzahlungen ausschlaggebend ist. Und arbeitnehmerseitig wäre dies das Vorliegen eines sachgerechten Lebenslaufs für die vertragsgegenständliche Tätigkeit, sofern diese von der Aufstockungs-Vereinbarung umfasst ist.

Der Bundesverband Produktion Film und Fernsehen e.V. kritisiert primär die direkte Verknüpfung von Budgethöhe und den konkreten Bedingungen der Tätigkeit. Denn das Budget bildet den tatsächlichen Arbeitskontext nur sehr bedingt ab, aus welchem jeweils die benötigte bessere Qualifizierung, und damit die neue Vergütungs-Aufstockung abzuleiten wäre.
Die in der vorliegenden Vereinbarung herangezogenen Nettofertigungskosten eines Projekts bilden nicht ab, dass Komplexität und Umfang der Aufgabenstellung der eigentlichen Drehvorhaben, und damit die Arbeitsbedingungen, bei ähnlichen Gesamtbudgets höchst unterschiedlich ausfallen können.
Gerade bei aufwendigeren Projekten ist regelmäßig eine überproportionale Verlagerung von Budgetbestandteilen von der physischen Produktion hin zur Postproduktion und in den “Above the line”-Overhead zu verzeichnen. Dies ist eine Tendenz, die sich mit der Digitalisierung der Medienproduktion kontinuierlich verstärkt hat.
Der Rückgriff auf das Projektbudget ergibt sich aus dem Bestreben nach Verallgemeinerbarkeit und (scheinbarer) Vergleichbarkeit.
Wenn man dies akzeptieren möchte, dann ergäbe sich jedoch eine wesentlich validere Kenngröße für die meisten Berufe des Gagentarifvertrags aus dem  amerikanischen Kalkulations-Schema bzw. dort konkret aus dem Teil-Abschnitt der “Below the Line Production Costs”.
Es ist daher zu bedauern, dass die präziseren Kategorien dieses Kalkulations-Schemas als Maßstab keinen Eingang in die Tarifvereinbarung gefunden hat. Und dies obwohl Netflix-Budgets ohnehin weitestgehend diesem Schema folgen.

Problematisch kann sich weiters in entsprechenden Fällen der Umstand erweisen, dass das relevante Referenz-Budget (engl.: locked budget) regelmäßig erst  unmittelbar vor Drehbeginn festgelegt wird. Für Fälle eines vorher nicht absehbaren Wechsels in der Einstufung eines Projekts müsste in vor dem Bestehen eines Referenz-Budgets abzuschliessenden Arbeitsverträgen eine entsprechend zu treffende Änderungsvereinbarung vorbeugend als zu vereinbaren augenommen werden.

Fragwürdig erscheint auch, dass tarifvertragliche Vereinbarungen sehr gerne neue Kategorien oder Bergriffe einführen, und dabei die Dinge mehr verwirren als zu klären. Zuletzt geschah dies beim TV-FFS 2021 mit der Einführung des Begriffs “Wochenende” neben dem eingeführten Begriff der “Wochenruhezeit”. In der Vereinbarung mit Netflix ist es der Begriff der “Premium Produktion” für jene TV-Produktionen, welche als Qualifikations-Projekt eines oder einer Filmschaffenden anerkannt wird. Auch das ersatzweise Heranziehen der Kategorie von  “Produktionen vergleichbaren Budgets” macht dies nicht besser, da die Kenntnis der relevanten Budgetdaten in der Regel auf blossem Hörensagen beruhen würde.
Welche fiktionalen TV-Produktionen außerhalb von Prime-Time Sendeplätzen gewähren also eine hinreichende Qualifikation?

Erstmals Qualifikations-Mindestbedingungen in einer tariflichen Vereinbarung

Mit der generellen Definition von Qualifikationsbedingungen für höhere Mindestgagen vollzieht sich ein Paradigmenwechsel.
Er fußt auf der Maxime, dass Bildung bzw. Qualifikation einen Wert darstellt. In Zeiten des Fachkräftemangels kann dies nicht genug betont werden.
Personalnot ist ein quantitives Problem, Fachkräftemangel hingegen ein qualitatives Problem. Es Bedarf also Anreize, die entsprechende Qualifikation zu erwerben. Wie ein faires und zielorientiertes System qualifikationsgemäßer Gagen ausgestaltet wird, darüber wurde und wird vortrefflich gestritten, und für alle disktutierten Modelle gilt es, ihre jeweiligen Vor- und Nachteile abzuwägen.
Man wird sich auch mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wie die Filmbranche zukünftig in ihren vielschichtigen Sparten und Aufgabenstellungen zwischen Filmhandwerk, Indurstrieanspruch und Filmkunst im freien Wettbewerb um Nachwuchs optionale Qualifikationswege und Erwerbsperspektiven entwickeln kann, welche über die Ausübung von bestimmten Spezialistentätigkeiten innerhalb der Branche hinausweisen, indem sie den Standards der Berufsbildung in Deutschland und Europa vergleichbar sind.
Hierbei stellen die Weichenstellungen von Tarifpartnern einen wichtigen Teilaspekt möglicher Gestaltungsmittel dar.
Zu begrüßen wäre aus unserer Sicht, wenn die eklatante Ferne der brancheneigenen Qualifikationsperspektiven von den deutschen und europäischen Berufsbildungsstandards stärker in den Fokus der Betrachtung kämen, auch bei den angekündigten Gesprächen zwischen Ver.di und Netflix zum Thema Qualifikation.

Zur harschen Kritik des BVK an der Vereinbarung

Überschattet wird die Veröffentlichung der Gagenvereinbarung mit Netflix aus unserer Sicht von einer abschätzigen und unnötigen Äußerung seitens des Bundesverband Kamera (BVK). Der Auslöser sind die vorläufig gescheiterten GVR-Verhandlungen des Regieverbands BVR mit Netflix, in deren zeitlichem Zusammenhang die Aufnahme einer Mindest-Erstvergütung für RegisseurInnen in die hier besprochene Vereinbarung gesehen werden kann. Diese Vorgänge kann und wird der Bundesverband Produktion Film und Fernsehen e.V. nicht bewerten.
Wenn nun jedoch der BVK einer Gewerkschaft vorwirft, dass diese ihre Arbeit entscheidend an der Maxime einer Stärkung von Mindestbedingungen für die jeweils schwächsten ArbeitnehmerInnen orientiert, und nicht an Partikularinteressen von Funktionseliten, so erreicht die Argumentation potenziell toxisches Fahrwasser, und es ergeben sich zahlreiche Fragezeichen bezüglich der derart ausgedrückten Erwartungen seitens der Mitgliedschaft des BVK.

Die Wahrnehmung der Arbeit der Vielzahl meist kleiner Film-Berufsverbände im Bemühen um die konstruktive Mitgestaltung der Profile von Filmberufen und letztlich dem Profil der Filmbranche leidet erheblich unter derlei toxischen Sandkastenspielen.
Dies kann weder im Sinne unseres Selbstverständnisses als Berufsverband noch im Interesse unserer Berufsgruppen sein.

Weitere Informationen:

Die Netflix-Ver.di-Vereinbarung zum Download (englisch und deutsch):

Link zu einer Ver.di-Stellungnahme vom 27. Juli 2022 “Erhöhte Mindestgagen bei Netflix Serien”